16.09.2014, Die Schweden machen die Schotten dicht

Wir haben die erste Nacht gut überstanden. Nach dem Frühstück geht es weiter auf dem Kungsleden nach Süden. Wir ahnen nicht, dass schon die zweite Etappe unserer Tour eine der Anstrengendsten werden sollte. Wir wollen auf jeden Fall heute noch den See Sitojaure überqueren und dem Kungsleden noch ein Stück weiter Richtung Aktse folgen. Wir müssen uns aber darauf gefasst machen, über den See zu rudern. Im schlimmsten Fall sogar drei mal, da von den 3 Booten immer mindestens eins auf jeder Seite des Sees liegen muss. Aus kurzen Gesprächen mit anderen Wanderern erfahren wir, dass die Samenfamlie, welche innerhalb der Saison einen Motorboot-Transfer anbietet, ihre Saison inzwischen beendet hat.

Bis auf einige kurze Passagen läßt es sich auf diesem Abschnitt des Fernwanderwegs Kungsleden sehr gut laufen. Bei Sonnenschein und sommerlichen Temperaturen erreichen wir gegen Mittag Sitojaure. Alex ist ein paar Minuten vor mir an der Hütte des schwedischen Touristenverbands STF. Hier erfahren wir, dass die Männer der Samenfamilien zu dieser Zeit voll und ganz mit dem Schlachten von Rentieren beschäftigt sind. Die Frau vom STF macht uns Hoffnung, das vielleicht doch noch die Chance auf eine Überfahrt mit dem Motorboot besteht. Sie schickt uns ein kurzes Stück um den See herum bis zum Haus der Samen, um dort noch einmal nachzufragen.

Wir haben unverschämtes Glück. Ausgerechnet heute findet die allerletzte Fahrt der Saison statt. Die planmäßigen Überfahrten wurden bereits eingestellt, aber es wird eine letzte Fahrt mit dem Motorboot geben, um die Betreiber der Aktse-Hütte von der anderen Seite des Sees abzuholen. Bis zur Abfahrt bleibt noch Zeit, so dass wir uns eine Weile in die Sonne legen und die schöne Gegend geniessen können. Bevor wir aufbrechen, helfen wir der jungen Sami noch dabei, einige ihrer Boote winterfest zu verstauen. Die Frau vom STF passt während dessen auf die Kinder der Samenfamilie auf. Wir kommen ins Gespräch und erfahren, dass die Samen ihre Hütte in wenigen Wochen verlassen und den Winter in der Stadt verbringen werden. Sie erkundigt sich nach unserer geplanten Route und berichtet ein wenig beunruhigt, dass laut aktuellem Wetterbericht in drei Tagen ein Unwetter aufziehen wird.

Die Überfahrt entlang der mit Bojen gekennzeichneten Strecke verläuft problemlos. Nur das kleine Hündchen der Sami fängt im kühlen Fahrtwind an zu zittern wie Espenlaub. Als ihm Alex mit einem warmen Kleidungsstück ein Nest baut, kuschelt es sich glücklich hinein. Auf der anderen Seite werden wir bereits vom Betreiber der Aktse-Hütte und seiner Frau erwartet. Auch er warnt uns vor dem Unwetter und fragt uns, auf welcher Route wir den Sarek durchqueren wollen. Er rät uns davon ab, dem Kungsleden wie geplant bis Aktse zu folgen. Die Hütten sind (bis auf den Schutzraum) geschlossen. Statt der Tagestour auf den Gipfel des Skierffe, könnten wir uns gleich dorthin auf den Weg machen. So würden wir einen Tag sparen und nicht viel verpassen. Wir fragen ihn, welche Route zum Skierffe aus seiner Sicht am sinnvollsten ist und lassen uns die Strecke auf der Karte erklären.

So folgen wir dem Kungsleden nur noch ein kurzes Stück. Der Pfad führt uns wieder in einen Birkenwald hinein, verläuft zunächst teilweise über Bohlen-Planken und steigt dann immer steiler an. Wir kreuzen mehrere Bäche und nutzen jede Gelegenheit, unsere Wasservorräte aufzufüllen. Während der Kungsleden über die östliche Flanke des Njunjes verläuft, wollen wir den 1083 Meter hohen Berg ungefähr auf halber Höhe umrunden: über die Nordseite bis zur Westflanke. Dort befinden sich zwischen den Gipfeln des Njunjes und des Bassoajvve zwei ziemlich hoch gelegene Bergseen. Allerdings ist es bis dahin noch ein weiter Weg und da es schon später Nachmittag ist, wollen wir nur noch ein kleines Stück weiter bis zur Baumgrenze, um uns dort einen Lagerplatz zu suchen. Der Anstieg ist äußerst anstrengend, zumal die Ausrüstung zu Beginn der Tour noch sehr viel Gewicht hat. Wir machen viele kurze Pausen und freuen uns über die Unmengen schmackhafter Blaubeeren. Wir haben allerdings auch viel Durst und verbrauchen ziemlich viel der gerade erst aufgefüllten Wasservorräte. Als wir die Höhe erreicht haben, in der wir den Kungsleden verlassen wollen, ist kein geeigneter Lagerplatz in Sicht.

Wir beschliessen, nach Nordwesten abzubiegen und es an einem der Bachläufe auf dieser Seite des Berges zu versuchen. Es stellt sich heraus, dass alle auf der Karte eingezeichneten Bäche ausgetrocknet sind. Unsere Wasservorräte haben inzwischen noch weiter abgenommen. Für die Zubereitung des Abendessens würde es noch genügen, aber der schweißtreibende Aufstieg war nicht nur eine Herausforderung für unsere Funktionskleidung – vor allem macht er sehr durstig. Blaubeeren und Preiselbeeren wachsen hier auch nur noch vereinzelt. Die Sonne ist schon hinter den Berggipfeln verschwunden. Noch ist es hell genug, aber wir befinden uns auf der Nordseite des Berges und die beiden Bergseen, die wir eigentlich erst morgen erreichen wollten, sind noch ein ganzes Stück entfernt. Die hart erkämpften Höhenmeter aufgeben und zum letzten Bach zurück gehen kommt nicht in Frage. Ein ganzes Stück unterhalb unserer Position befindet sich in nördlicher Richtung laut Karte ebenfalls ein kleiner Fluss. Allerdings könnte dieser ebenfalls ausgetrocknet sein und der Weg dahin ist ziemlich steil und damit keine Option.

Am Sinnvollsten erscheint es uns, das letzte Tageslicht zu nutzen, um über den Bergkamm nach Südwesten in Richtung der beiden Seen zu gehen. Unsere Position am Berghang macht die Orientierung schwierig, wichtige Orientierungspunkte wie die umliegenden Gipfel sind von hier aus schwer zu sehen. Wir versuchen, den Weg so gut es geht abzuschätzen und wählen eine Route, die uns noch weiter hinauf führt. Doch hinter jedem Bergkamm wartet ein weiterer, der vorher nicht zu erkennen war und die Sicht auf die anderen Berge verdeckt. In der Abenddämmerung quälen wir uns den Berg hinauf und erreichen endlich eine Position auf der Westseite des Njunjes, von der aus die umliegenden Berge zu sehen sind. Es ist gerade noch hell genug, um uns orientieren zu können. Im Süden sehen wir den Tjahkelij, dazwischen muss das Rapadalen liegen. Es zeigt sich, dass wir ziemlich genau die richtige Richtung eingeschlagen haben – einer der beiden Seen muss sich ungefähr einen Kilometer westlich von uns befinden. Nach einer kurzen Verschnaufpause machen wir uns im Licht unserer Stirnlampen auf den Weg dahin. Die Sonne ist inzwischen untergegangen. Hier oben ist das Gelände relativ flach und wir kommen besser voran. Auf den letzten Metern zum See findet Alex noch mehrere Bruchstücke von Rentier-Geweihen. Kurz darauf erreichen wir endlich ziemlich erschöpft den Bergsee. Wir haben die Ostgrenze des Sarek-Nationalparks erreicht. Alex kümmert sich wieder um das Abendessen, während ich das Zelt aufbaue. Ich kann es kaum erwarten, in den Schlafsack zu kriechen.

Beim essen fallen Alex zwei eigentümliche, lang gezogene Wolken auf. Ein paar Augenblicke später sind wir uns sicher – wir sehen unsere ersten Polarlichter! Innerhalb kurzer Zeit nimmt die Intensität der Nordlichter stark zu und sie sind jetzt sehr deutlich zu erkennen. Man sieht mit bloßem Auge, wie sich die Nordlichter langsam aber stetig verändern, es bilden sich immer neue Szenarien. Wir geniessen das farbenprächtige Schauspiel am Nachthimmel. Müdigkeit und Erschöpfung sind völlig vergessen.

An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei Thomas Guthmann für seine Tipps zur Polarlicht-Fotografie bedanken! Zu schade, dass ich mein lichtstarkes Weitwinkel-Objektiv nicht dabei habe. In der Nacht vor dem Abflug habe ich noch einige Teile meiner Ausrüstung aussortiert, um das Gewicht zu reduzieren. Irgendwann man muss sich entscheiden, ob man eine Wildnistour oder eine Foto-Safari machen möchte. Beides lässt sich nur bis zu einem bestimmten Punkt miteinander verbinden. Immerhin habe ich ein Stativ dabei. Die Fotoausrüstung macht auch einen beachtlichen Teil des Gewichts aus. Ich bin mit ca. 25 Kilo gestartet, Alex sogar mit 30. Hinter uns liegt eine äußerst anstregende Etappe. Wir sind viel weiter marschiert, als eigentlich geplant und haben einen kraftraubenden Anstieg bezwungen. Auch für unsere Kleidung war dieser Tag eine Bewährungsprobe. Zuerst die Wanderung bei strahlendem Sonnenschein, dann der beschwerliche und schweißtreibende Weg den Berg hinauf und zu guter Letzt die kalte Nacht. Aber die Funktionswäsche hat ihren Zweck voll und ganz erfüllt. Obwohl es inzwischen ziemlich kalt geworden ist, stehen wir noch über eine Stunde lang in der Nacht und freuen uns über den unvergesslich schönen Anblick, bevor wir glücklich in unsere Schlafsäcke kriechen.


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